Diese Verbrechen sind keine privaten Tragödien – sie sind das Ergebnis einer tief verwurzelten historischen, rechtlichen und kulturellen Ordnung. Wenn wir sie hinter dem Begriff „Familie“ verbergen, öffnen wir der Wiederholung dieser Taten Tür und Tor.
Femizid ist nicht bloß die Tötung eines einzelnen Menschen – er ist ein Tod mit weitreichender Bedeutung. Ein Tod, der nicht nur das Leben einer Frau auslöscht, sondern auch das unsichtbare Gefüge unseres gesellschaftlichen Gewissens zerreißt. Jedes Mal, wenn eine Frau durch die Hand eines Mannes, Ehemanns, Vaters oder Bruders stirbt, wird die Geschichte neu – und blutig – geschrieben.
Diese Morde sind keine spontanen Ausrutscher oder unglücklichen Zufälle. Femizid ist die bittere Frucht eines uralten, tief in der Gesellschaft verwurzelten Baumes – ein Baum, dessen Wurzeln im Gesetz verankert sind, dessen Nährboden die Tradition ist und dessen Wasser aus überlieferten kulturellen Überzeugungen stammt. Und doch sprechen Medien und Gesellschaft von dieser Katastrophe in irreführenden, verharmlosenden Begriffen wie: „Familiendrama“, „Ehrenmord“, „Ehekonflikt“ oder „männliche Ehre“. Diese Worte verschleiern nicht nur die Realität – sie entziehen der Gewalt ihre Systematik und machen sie namenlos.
„Ehre“ und „Scham“ – Begriffe, die wie unsichtbare Ketten um den Hals der Frauen liegen. In dem Moment, in dem eine Frau diese Worte zum ersten Mal aus dem Mund ihres Vaters, Bruders, Ehemanns oder gar eines Fremden hört, beginnt sie, diese Kette als Last und Wunde mit sich zu tragen. Morde im Namen der „Ehre“ entspringen nicht nur krankhaften patriarchalen Vorstellungen – sie sind das Produkt eines Systems, das Männern Macht verleiht und Gewalt als ihr vermeintliches Recht legitimiert.
Femizid ist kein häuslicher Vorfall. Eine Frau, die im Schlafzimmer, im Lagerraum oder in einer abgelegenen Gasse von einem Mann getötet wird, der sie als Teil seiner „Ehre“ betrachtet, ist das Opfer eines kulturellen Verbrechens. Eines Verbrechens, dem die Gesellschaft oft mit Mitgefühl für den Täter begegnet. Ein Gesetz, das den Vater nicht zur Rechenschaft zieht, wenn er seine Tochter ermordet, das aber eine verliebte Frau kriminalisiert. Eine Kultur, die den Tod der Frau rechtfertigt und den Zorn des Mannes „Ehre“ nennt. Und Medien, die das Verbrechen emotionslos berichten, ohne seine Ursachen zu benennen.
Femizid ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines komplexen Systems – von Schulen, die Mädchen das Schweigen und Jungen die Macht lehren, bis hin zu Gesetzen, die dem Blut einer Frau geringen Wert beimessen, und Medien, die den Leichnam der Frau verhüllen, aber das Messer des Täters unberührt lassen. Es ist ein Gewebe aus Gesetzen, Traditionen und Erziehung, das die Frau zum Schweigen und in den Tod führt – und den Mann zur Straffreiheit.
Frauen sind die stummen Opfer der Begriffe einer männlich geprägten Tradition.
„Ehre“ und „männlicher Stolz“ – Wörter, die wir seit Kindheit hören, ohne zu begreifen, wie tief sie sich in unser Denken eingraben und die Grenzen zwischen Liebe und Kontrolle, Fürsorge und Besitz, Respekt und Unterwerfung verwischen. Worte, die harmlos erscheinen, aber in der Praxis zur Rechtfertigung von Gewalt, Unterdrückung und Mord dienen.
Wir tragen Verantwortung für die Sprache, die wir verwenden.
Wir müssen unsere Worte neu schreiben. Wir müssen laut und klar sagen: Femizid ist ein kulturelles Verbrechen – kein familiärer Zwischenfall. Wir müssen das System benennen und zur Stimme jener Frauen werden, die zum Schweigen gebracht wurden, bevor sie überhaupt schreien konnten.
Femizid ist ein Spiegel – ein Spiegel, der uns unsere Gesellschaft in schonungsloser Klarheit vor Augen führt. Wenn wir uns abwenden, verschwindet das Bild nicht – es wird nur dunkler. Und solange dieses System existiert, werden wir Woche für Woche eine neue Schlagzeile lesen – und jedes Mal so tun, als wären wir überrascht.
Aber wie kann eine Gesellschaft, in der Männer töten und das Gesetz sie schützt, Frauen ein Recht auf Leben zugestehen? Wie kann eine Frau in einem solchen Land anders leben als in Angst?
Wir haben uns an diese Gewalt gewöhnt.
Die Nachricht von einem weiteren Femizid schockiert uns nicht mehr – wir sind abgestumpft. Doch wer schweigt, ist nicht nur Zeuge – sondern Mittäter.