Die Ermordung von Elahe Hosseinnejad, einer 24-jährigen Frau aus Islamshahr, wirft erneut eine alte, aber fundamentale Frage auf: Was ist die Aufgabe des Staates? Wenn der Staat seine grundlegendste Pflicht, nämlich den Schutz des Lebens seiner Bürgerinnen und Bürger, vergisst, welche Rolle bleibt ihm dann? Schutz oder Kontrolle? Leben oder Unterdrückung?
Elahe, eine unabhängige Frau und Ernährerin ihrer Familie, wurde auf dem Heimweg von Saadatabad nach Islamshahr von Bahman Farzaneh, einem 31-jährigen Mann, der in Teheran als Taxifahrer arbeitete, ermordet. Laut offizieller Polizeiangaben tötete der Täter Elahe aus Raubabsicht, nachdem er ihr Handy gesehen hatte, mit einem Messer und ließ ihre Leiche in den Wüstengebieten um Teheran zurück.
Doch einige Medien, darunter die Nachrichtenagentur Mizan, die der Justiz angegliedert ist, sprachen von einer „bösen Absicht“ des Täters. Ein Begriff, der in der Rechtssprache der Islamischen Republik häufig auf eine sexuelle Übergriffabsicht verweist.
In den Tagen nach der Tat wurden auf sozialen Netzwerken Bilder veröffentlicht, die den Beschuldigten in religiösen Versammlungen und neben Symbolen der Treue zur Führung der Islamischen Republik zeigen. Diese Bilder alleine sind kein Beweis für politische oder ideologische Motive. Doch im Zusammenspiel mit dem männlich dominanten und erniedrigenden Tonfall der Vernehmer in veröffentlichten Videos wächst die Sorge, dass die Gewalt nicht nur eine spontane Entscheidung oder ein finanzielles Motiv war.
Über die individuellen Motive hinaus ist jedoch klar, dass strukturelle Bedingungen solche Verbrechen erst möglich machen: Vom Zusammenbruch der städtischen Sicherheit und der strukturellen Armut bis zur Gleichgültigkeit der herrschenden Institutionen gegenüber Gewalt gegen Frauen.
In einer Gesellschaft, deren Straßen unsicher sind, in der die Kontrolle über Fahrer von städtischen Plattformen fehlt und soziale Unterstützungsmechanismen zerfallen sind, ist Sicherheit kein Recht, sondern eine Frage des Glücks. Frauen, die heute im Iran entweder zum Lebensunterhalt oder zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Öffentlichkeit präsent sind, sind jedes Mal der Gefahr von Tod, Belästigung oder Gewalt ausgesetzt.
Selbst wenn man den Mord allein als Raub begreift, liegen die Ursachen tief in der Armut. Nicht nur die Armut des Täters, sondern auch die Armut des Opfers. Eine Frau, die ohne staatliche Unterstützung die finanzielle Last der Familie allein tragen musste. Frauen wie Elahe leben häufig ohne Versicherung, ohne Arbeitsplatzsicherheit und am Rand der offiziellen Wirtschaft.
Frausein in der Islamischen Republik ist an sich bereits eine Gefahr. Ein Staat, dessen Polizei auf den Straßen nach Haaren von Frauen sucht, aber gegenüber realen Bedrohungen ihres Lebens schweigt, verwandelt Sicherheit in ein widersprüchliches und selektives Konzept. Gewalt gegen Frauen in Iran findet nicht nur im Haus statt. Sie hat ihre Wurzeln ebenso auf den Straßen, in der Politik, im Gesetz und in der Macht.
Ein Staat, der Milliarden in Sicherheitsorgane und Zensurinstitutionen investiert, aber unfähig ist, eine Frau auf ihrem Heimweg zu schützen, kann sich nicht mehr als Staat des Lebens bezeichnen. Ein solcher Staat reproduziert den Tod durch sein Schweigen und seine Untätigkeit.
Elahe ist kein Opfer eines Einzelnen. Sie ist ein Opfer eines Staates, der zwar formal herrscht, doch seine grundlegendste Pflicht, das Leben der Bürgerinnen und Bürger zu schützen, längst aufgegeben hat.
Elahe ist mehr als nur ein Opfer. Sie ist ein Zeichen eines Systems, das in unserem Schweigen Leben für Leben nimmt.
Zwischen Lebensschutz und staatlicher Gewalt: „Die doppelte Rolle des Staates“.
Die Wahl liegt nicht bei uns, aber die Frage schon. Und manchmal ist das Fragen selbst schon eine Form des Widerstands.
Siavash Aban