Atefeh Sahaaleh – Die Geschichte eines Mädchens, dem die Gerechtigkeit verwehrt blieb

Atefeh Sahaaleh

Atefeh Sahaaleh, geboren im September 1987 in Maschhad, war ein Mädchen, das aus Armut, Leid und Schutzlosigkeit hervorging. Ihre Mutter verlor sie bei einem Verkehrsunfall, und ihr Vater, drogenabhängig und obdachlos, war unfähig, ihr und ihrer jüngeren Schwester irgendeine Unterstützung zu bieten. Die beiden Schwestern lebten im Haus ihres mütterlichen Großvaters in der Stadt Neka – ein Zuhause, das Schutz bieten sollte, sich jedoch bald in den Beginn eines endlosen Albtraums verwandelte.

Im Alter von 13 Jahren erhielt die Polizei anonyme Berichte, die behaupteten, Atefeh habe „unmoralische Beziehungen“ zu mehreren Männern gehabt. Kurz darauf erstattete auch ihr Großvater Anzeige gegen sie – mit denselben Vorwürfen. Atefeh wurde zusammen mit einem anderen Mädchen – dessen Identität bis heute unbekannt ist – festgenommen.

Während des Verhörs nannte Atefeh zwei Männer beim Namen; jedoch wurden diese trotz anfänglicher Vorladungen im weiteren Verlauf des Verfahrens völlig ignoriert. Atefeh, die keinerlei Zugang zu angemessener Verteidigung hatte, wurde lediglich ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt, der jedoch keine aktive Rolle im Verfahren spielte und dessen Anwesenheit rein formeller Natur war.

Ihr Vater berichtete in einem Interview, dass er in den ersten drei Monaten ihrer Inhaftierung nur zehn Minuten lang mit ihr habe sprechen dürfen.

Das erste Gericht in Neka verurteilte die 13-jährige Atefeh zu 100 Peitschenhieben und Haft; das Urteil wurde sofort vollstreckt. Weniger als zwei Monate später wurde sie erneut mit ähnlichen Vorwürfen festgenommen und erhielt dieselbe Strafe. Sechs Monate später – erneut dieselben Vorwürfe, dieselbe Strafe.

Innerhalb eines Jahres wurde die jugendliche Atefeh dreimal wegen „außerehelicher Beziehungen“ festgenommen und insgesamt mit 300 Peitschenhieben bestraft.

Anfang 2004 wurde Atefeh zum vierten Mal mit denselben Vorwürfen festgenommen; diesmal entschied das Gericht anders: Es verhängte die Todesstrafe.

Gemäß Artikel 136 des islamischen Strafgesetzbuchs kann, wenn eine Person viermal wegen „außerehelicher Beziehungen“ verurteilt wurde, beim nächsten Mal die Todesstrafe verhängt werden. Doch Atefeh hatte zu diesem Zeitpunkt nur drei Verurteilungen, und vor allem war sie erst 16 Jahre alt.

Im vierten Prozess sagte Atefeh aus, dass sie im Alter von 13 Jahren während ihrer Haft in Behschar mehrfach von Ali Darabi – einem 51-jährigen, verheirateten ehemaligen Mitglied der Revolutionsgarde – vergewaltigt worden sei. Das Ergebnis dieser Enthüllung war lediglich eine Verurteilung Darabis zu 100 Peitschenhieben.

Für Atefeh jedoch bedeutete es den Tod.

Sie wurde wegen „außerehelicher Beziehungen“ und „Verletzung der öffentlichen Moral“ zum Tode durch öffentliche Hinrichtung verurteilt. Die Urteilsverkündung, Bestätigung und Vollstreckung dauerten insgesamt nur 105 Tage – ohne Möglichkeit zur Verteidigung, ohne dass die Stimme eines Teenagers gehört wurde.

Doch eine weitere Tragödie verbarg sich hinter diesem Fall: Atefehs tatsächliches Alter.

In allen offiziellen Dokumenten, von medizinischen Gutachten bis zur Sterbeurkunde, wurde ihr Geburtsjahr mit 1982 angegeben – was sie zum Zeitpunkt der Hinrichtung als 22-jährig erscheinen ließ. Dabei bestätigten sowohl ihr Ausweis, medizinische Unterlagen, Schulzeugnisse als auch Aussagen von Familie, Nachbarn und sogar die Geburtsregistrierung im Krankenhaus, dass Atefeh 1987 geboren wurde – also 16 Jahre alt war.

In den letzten Gerichtsverhandlungen erklärte Atefeh, dass sie an psychischen Störungen und geistiger Instabilität leide und bereits mehrfach von Psychiatern untersucht und sogar in einer psychiatrischen Klinik behandelt worden sei. Ihre Familie hatte wiederholt auf ihren psychischen Zustand hingewiesen, und 41 Bewohner ihres Viertels hatten eine eidesstattliche Erklärung unterzeichnet, die ihre geistige Instabilität bestätigte.

Doch im Gerichtsverfahren wurden all diese Informationen ignoriert.

Schließlich wurde Atefeh Sahaaleh im Jahr 2004 öffentlich in der Stadt Neka mit einem Kran hingerichtet.

Nach der Hinrichtung folgten weltweit heftige Reaktionen. Journalistinnen, Journalisten und Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten nahmen den Fall eingehend unter die Lupe. Amnesty International leitete eigene Ermittlungen ein und bestätigte schließlich, dass Atefeh zum Zeitpunkt ihrer Hinrichtung minderjährig war und an psychischen Störungen litt – zwei Faktoren, die nach internationalem Recht eine Hinrichtung illegal machen und sie als Verbrechen einstufen.

Im Jahr 2006 hob der Oberste Gerichtshof der Islamischen Republik Iran – unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit – das Todesurteil gegen Atefeh auf, allerdings erst nach ihrer Hinrichtung. Doch da war es bereits zu spät. Das Leben eines Teenagers war ausgelöscht worden.

Es kursierten Gerüchte über die erneute Festnahme von Ali Darabi, des Richters Haj Rezai sowie weiterer am Fall beteiligter Personen, doch keine dieser Meldungen wurde je offiziell bestätigt.

Nach Atefehs Hinrichtung kam es in Europa – insbesondere in Frankreich und Deutschland – zu Protesten und Demonstrationen für die Rechte von Frauen, Kindern und psychisch Erkrankten. In Iran hingegen blieb die einzige offizielle Reaktion die nachträgliche Aufhebung des Urteils – nach dessen Vollstreckung.

Heute ist der Name Atefeh Sahaaleh für viele nur eine bittere Erinnerung; für Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger jedoch ist sie das Symbol eines Mädchens, das Opfer eines Justizsystems wurde, das Gerechtigkeit nicht im Sinne von Wahrheit, sondern im Sinne von Angst, Schweigen und Machterhalt auslegte.

Atefeh ging –
ohne Verteidigerin,
ohne Stimme,
ohne Zuflucht.

Doch ihre Geschichte, ihr Schmerz, ihre stumme Bitte um Hilfe – sie überlebten sie.

Heute ist Atefeh Sahaaleh mehr als nur ein Name.

Sie ist ein Symbol – für all jene jungen Mädchen, die unterdrückt, verurteilt, übersehen und vergessen wurden.

Ein stummer Schrei gegen ein System, das wegsieht, wenn es eigentlich hinsehen müsste.

Vielleicht hört die Welt nicht jeden Schrei.

Aber manche Schreie werden mit der Zeit zu einem Echo, das niemals ganz verstummt.

Und Atefehs Echo hallt weiter –
in den Gassen der Städte,
in den Herzen der Gerechtigkeitssuchenden,
und in jedem Versuch,
aus der Dunkelheit der Unterdrückung ein Licht zu machen.

 

Ende.

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