Schüsse in Ankara, Triumph in Damaskus

Schüsse in Ankara

Attentate tragen immer eine symbolische Dimension in sich, die je nach Kontext stärker oder schwächer ausgeprägt sein kann. Mitunter besteht das Ziel eines Attentats ausschließlich in der Symbolik: sei es die Ermordung des Erzherzogs von Österreich, um mit dem Mord an einem Symbol des Friedens einen Weltkrieg zu entfachen, oder der Einsturz des World Trade Centers, das als Sinnbild des kapitalistischen und amerikanisch geprägten Globalismus galt, in einem Inferno aus Feuer und Asche. Politische Attentäter möchten nicht nur töten, sondern zugleich eine Botschaft senden – ihre Taten sind ein Spektakel, begleitet von Parolen und Symbolen.

Vor genau acht Jahren, an einem Tag wie diesem, ereignete sich in Ankara ein Attentat, das die Welt erschütterte. Inmitten der kulturellen Atmosphäre einer Kunstausstellung, vor laufenden Kameras, die eigentlich kunstvolle Momente einfangen sollten, atmete ein junger Mann tief durch, griff hinter seinem Rücken nach einer Waffe und schoss. Sein Ziel: Andrei Karlow, der russische Botschafter. Mit den Worten „Allaho Akbar“ rief er Panik unter den Anwesenden hervor, die fluchtartig die Galerie verließen, während die eiskalten Linsen der Kameras weiterliefen und jede Szene unbarmherzig festhielten. Der Attentäter skandierte auf Arabisch einen Slogan, der an die Hymnen der al-Nusra-Front erinnerte, und erklärte, er habe sich dem Dschihad im Namen des Propheten verschrieben. Anschließend wandte er sich auf Türkisch an sein Publikum und rief: „Vergesst Syrien nicht! Vergesst Aleppo nicht!“ Der Botschafter lag bereits leblos am Boden, während der Attentäter weiter sprach und seine Symbolik vollendete, indem er sich über den Leichnam beugte und mehrere Schüsse abgab. Minuten später traf die Polizei ein und erschoss ihn. Das Video dieses Ereignisses ist bis heute in Umlauf.

Doch der Attentäter war kein bärtiger, turbantragender Fremder mit radikaler Erscheinung, sondern ein gut gekleideter junger Mann in Anzug und Krawatte, der mit erhobenem Zeigefinger in den  Himmel schrie. Mit noch nicht einmal 22 Jahren war er ein Wolf im Schafspelz: ein Mitglied der Polizeieinheit, die eigentlich für den Schutz von Staatspräsident Erdogan verantwortlich war. Sein Name war Mevlüt Mert Altıntaş. Laut Aussagen seiner Schwester begann er ab seiner Zeit an der Polizeischule, täglich fünfmal zu beten. Seine Familie war so beschämt über seine Tat, dass sie seine Leiche nicht in Empfang nahm. Er wurde anonym in einem Friedhof für Unbekannte begraben. Doch die Geschichte erzählt selten die ganze Wahrheit. Altıntaş war keineswegs ein Einzelgänger oder heimatlos, sondern vielmehr ein Vertreter einer historischen Strömung, die auch in Zukunft Bestand haben sollte. Ein deutlicher Beweis hierfür ist die Tatsache, dass seine Kugeln zwar das Herz des Botschafters durchbohrten, doch die eigentliche Zielscheibe – Syrien – acht Jahre später in derselben Dezemberwoche durch Gleichgesinnte erobert wurde. Aus dieser Perspektive betrachtet, war Altıntaş der Vorbote eines zukünftigen Sieges.

Die türkische Regierung verurteilte erwartungsgemäß diese Tat und schob die Verantwortung auf ihren bewährten Sündenbock, die Bewegung von Fethullah Gülen. Trotz intensiver Ermittlungen – auch durch zwanzig russische Experten, die eigens zu diesem Zweck nach Ankara entsandt worden waren – konnten keine klaren Verbindungen festgestellt werden. Auffällig war lediglich, dass Altıntaş wiederholt nach Katar gereist war, einem bekannten Unterstützer islamistischer Bewegungen. Selbst Google war nicht in der Lage, die von ihm gelöschten E-Mails wiederherzustellen.

 

 

Dennoch ist unübersehbar, dass ein Machtkampf zwischen der Türkei und Russland tobte. Russlands Intervention – gemeinsam mit der islamischen Republik – hatte eine tiefe Kluft zwischen beiden Ländern geschaffen. Gleichzeitig war Erdoğan der Initiator einer neuen Welle des Islamismus in der Türkei, auch wenn er es vermied, sich explizit darauf zu beschränken oder radikal zu wirken. Der Versuch, die Schuld allein auf die Gülen-Bewegung zu schieben, greift daher zu kurz. Vielmehr hat die Türkei unter Erdoğan eine gesellschaftliche Basis für den neuen Islamismus geschaffen, aus der Figuren wie Altıntaş hervorgehen konnten. Es bedarf keiner direkten Anweisung einer Einzelperson – dieses Attentat war vielmehr Ausdruck einer mächtigen sozialen Bewegung.

Islamismus stellt die größte politische Kraft im Nahen Osten dar. Wenn es hundert Jahre säkularem Kemalismus nicht gelang, die Rückkehr des türkischen Islamismus zu verhindern, ist kaum zu erwarten, dass andere Regionen erfolgreicher sein könnten. Von Pakistan bis Ägypten würde in fast jedem Land, in dem freie Wahlen stattfinden, eine islamistische Strömung den Sieg davontragen – mit Ausnahme des Irans, wo sich von Grund auf eine säkulare Gesellschaftsseele entwickelt hat. Natürlich lassen sich keine pauschalen Aussagen treffen, und beispielsweise bedarf es einer genauen Analyse der Golfstaaten und Saudi-Arabiens. Es ist jedoch offensichtlich, dass, falls in Saudi-Arabien die starke Hand von Mohammed bin Salman nicht eingreift und das Land politisiert wird, der Islamismus unverzüglich die Oberhand gewinnen würde.

Um historische Entwicklungen zu verstehen, muss man über die Zeitspanne eines Jahres hinausdenken und in Jahrzehnten rechnen. In diesem Maßstab betrachtet, war der Schuss, den Altıntaş abfeuerte, erst der Auftakt. Acht Jahre später trug er Früchte – und meine These lautet, dass diese Strömung in ähnlichem zeitlichen Rahmen weitere Bastionen erobern wird.

von: Mehdi Tadayoni

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