von: Haleh Hosseini Ramamdi
Am 7. Oktober 2024 fand in Bremen eine Gedenkveranstaltung für die Opfer der Angriffe auf Israel statt. In unmittelbarer Nähe störte eine Pro-Palästina-Demonstration die Veranstaltung mit lauten und aggressiven Parolen. Diese Aktion war nicht nur respektlos gegenüber den Opfern, sondern zielte bewusst darauf ab, das Gedenken zu stören und antisemitische Ressentiments zu verbreiten (1).
Wenn Meinungsfreiheit missbraucht wird und Hass daraus entsteht
Die Meinungsfreiheit, als unverzichtbarer Eckpfeiler jeder liberalen Demokratie, wird durch Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt (2). Doch sie findet ihre Grenzen, wenn Worte zu Waffen werden und Hass sowie Hetze säen. In diesen Momenten ist staatliches Eingreifen unabdingbar (3). Der Vorfall in Bremen führt zu entscheidenden Fragen: Wo endet legitimer Protest? Wann beginnt die Pflicht des Staates, das öffentliche Leben und die Rechte der Gemeinschaft zu wahren?
Laut dem in Deutschland geltenden Verhältnismäßigkeitsprinzip sind Einschränkungen der Meinungsfreiheit zulässig, wenn sie einem legitimen Ziel wie dem Schutz der öffentlichen Sicherheit oder der Würde anderer dienen (2). Die Provokationen in Bremen könnten als Überschreitung dieser Freiheit gelten. Wenn der Kern einer Veranstaltung darauf abzielt, antisemitische Rhetorik zu verbreiten und das Existenzrecht Israels infrage zu stellen, ist die Grenze zur Hetze bereits erreicht.
2023 verzeichnete einen alarmierenden Anstieg antisemitischer Vorfälle, insbesondere im Zusammenhang mit den Ereignissen in Israel und den palästinensischen Gebieten. Der Jahresbericht 2023 der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) spricht von einer Zunahme der Vorfälle um fast 83 % (1). Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage: Handelt der Staat entschieden genug? Sind die bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen, wie das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), ausreichend, um Hassrede online und offline zu bekämpfen?
Die EU-Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus betont, dass der Schutz jüdischen Lebens absolute Priorität haben muss (4). Doch die Umsetzung dieser Zielsetzung in nationale Maßnahmen bleibt vielerorts hinter den Erwartungen zurück. Besonders in sozialen Medien bleiben antisemitische Inhalte oft bestehen, was nach einer schärferen Durchsetzung bestehender Regeln ruft.
Die Allianz zwischen Linksextremen und Islamisten als neue Bedrohung
Ein besorgniserregender Trend ist die wachsende Allianz zwischen Teilen der politischen Linken und islamistischen Gruppen, oft basierend auf einer gemeinsamen Ablehnung Israels. Was als vermeintlich legitime „Israelkritik“ beginnt, driftet häufig in antisemitische Rhetorik ab, die sich gegen das Existenzrecht Israels richtet. Diese Allianz verstärkt antisemitische Tendenzen, indem sie das Bild Israels verzerrt und den jüdischen Staat als Feindbild darstellt.
In diesem Zusammenhang nimmt der Antiimperialismus eine prägende Rolle ein. Wie Alexander Estis in seinem Artikel „Shoahappropriation“ eindringlich hervorhebt, wird die sogenannte Israelkritik von linken Antiimperialisten oft als ideologisches Werkzeug eingesetzt, um den Nahostkonflikt in ein perfides Narrativ der „Opferkonkurrenz“ zu verwandeln. Dabei stilisieren sie die Palästinenser als die leidtragenden Opfer der Gegenwart, während die Juden als Täterfiguren der Neuzeit verunglimpft werden (5). Estis verdeutlicht, wie sowohl islamistische Propagandisten als auch linke Antiimperialisten diese Rhetorik mit der perfiden Gleichsetzung Israels mit dem NS-Regime anheizen und unverhohlen den Vorwurf eines Holocausts an den Palästinensern erheben.
Diese absurde Verzerrung der Realität bedient sich tief verwurzelter antisemitischer Stereotype, die seit jeher in den dunkelsten Verschwörungstheorien überleben. Die so geformte Opferkonkurrenz dient nicht nur als Werkzeug politischer Manipulation, sondern auch als perfide Strategie zur Relativierung der historischen Verantwortung Deutschlands für den Holocaust. Estis legt dar, dass diese ideologische Taktik in letzter Konsequenz darauf abzielt, die deutsche Gesellschaft von ihrem generationenübergreifendem Schuldtrauma zu „entlasten“, indem die jüdischen Opfer von einst heute als „faschistische Täter“ diffamiert werden (5). Dieses Beispiel verdeutlicht die fatale Rolle, die der Antiimperialismus bei der Legitimierung antisemitischer Weltbilder spielt, indem er Israel als repressiven Staat dämonisiert, um die politischen Ziele extremistischer Kräfte zu rechtfertigen.
Samuel Salzborn hebt hervor, dass die Grenze zwischen legitimer Israelkritik und Antisemitismus oft bewusst verwischt wird, um antisemitische Ideologien salonfähig zu machen (6). Diese Rhetorik normalisiert Antisemitismus in vielen Teilen der Gesellschaft, was langfristig die Spaltung fördert.
Es ist wichtig, eine klare Trennlinie zwischen legitimer Kritik an der israelischen Regierung und Antisemitismus zu ziehen. Jede Regierung, auch die israelische, darf und soll für ihre Politik kritisiert werden. Problematisch wird es jedoch, wenn Kritik nicht das politische Handeln betrifft, sondern das Existenzrecht Israels oder das jüdische Volk pauschal infrage stellt.
Der Soziologe und Antisemitismusforscher Marc Neugröschel beschreibt diesen Unterschied wie folgt: : Viele Menschen verbreiten unter dem Deckmantel der „Israelkritik“ antisemitische Vorurteile, indem sie Israel als „jüdischen Staat“ dämonisieren (7). Echte Kritik hinterfragt spezifische Handlungen einer Regierung, während Antisemitismus sich gegen die Identität und das Daseinsrecht eines Volkes richtet. Dieser Unterschied wird oft übersehen, was antisemitische Ansichten gesellschaftsfähig macht.
Antisemitismus als Angriff auf Demokratie und sozialen Zusammenhalt
Antisemitismus ist nicht nur ein Angriff auf die jüdische Gemeinschaft, sondern auch auf die Demokratie und den sozialen Frieden. Ungeahndete antisemitische Vorfälle untergraben das Vertrauen in den Staat. Das Versäumnis, konsequent gegen Antisemitismus vorzugehen, fördert die Radikalisierung und gefährdet die demokratische Ordnung. Es ist Aufgabe der Zivilgesellschaft und des Staates, antisemitische Handlungen und Rhetorik entschieden zu bekämpfen.
Die Bedrohung durch Antisemitismus zeigt, dass die Meinungsfreiheit klare Grenzen haben muss, wenn sie zur Verbreitung von Hass missbraucht wird. Staat und Gesellschaft müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein, den Antisemitismus zu bekämpfen, um die Demokratie und den sozialen Frieden zu wahren. Antisemitismus – sei es von der extremen Rechten oder in Form von Antizionismus – stellt eine ernsthafte Bedrohung dar, der entschlossen entgegengetreten werden muss.
Quellen:
- Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS), Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2023 – Jahresbericht.
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention
- Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
- EU-Kommission, EU-Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens 2021-2030.
- Alexander Estis, Shoahppropriation, 15. Juni 2024, aus Politik und Zeitgeschichte,
- Samuel Salzborn, Israelkritik oder Antisemitismus.
- Marc Neugröschel, Israelkritik und Antisemitismus, 17. November 2020, Israelnetz
Nr. 2 – November 2024