Touran Mirhadi: Die Mutter der modernen Bildung im Iran
Ein Leben zwischen zwei Kulturen, geprägt von Humanismus, Disziplin und dem Glauben an die Kraft des Lernens
Touran Mirhadi, die später als „Mutter der modernen Bildung im Iran“ berühmt wurde, wurde am 6. Juni 1927 in Shemiran, einem nördlichen Stadtteil Teherans, geboren. Sie entstammte einer außergewöhnlichen Familie, deren Wurzeln sowohl in der deutschen als auch in der iranischen Kultur lagen. Ihr Lebenswerk, das die iranische Bildungslandschaft tiefgreifend und dauerhaft prägen sollte, war durchdrungen von jener kulturellen Weite, die sie von Kindheit an umgab. Sie verstarb am 8. November 2016 in Teheran. Mit ihr verlor das Land eine der bedeutendsten Bildungsreformerinnen des 20. Jahrhunderts.
Als Pädagogin, Professorin für Kinderliteratur, Gründerin des Bildungs- und Versuchszentrums Farhad und Mitbegründerin des Kinderbuchrats (Shoraye Ketabe Koodak) setzte sie neue Maßstäbe für die schulische und kulturelle Bildung von Kindern im Iran. Ihre Arbeit verband tiefes pädagogisches Wissen mit einer klaren kulturellen Haltung. Bildung war für sie nicht nur ein Mittel der Wissensvermittlung, sondern ein Weg zur Menschwerdung.
Familiärer Ursprung und kulturelles Erbe
Touran wuchs in einem Umfeld auf, das von intellektueller Tiefe, kultureller Vielfalt und pädagogischer Weitsicht geprägt war. Ihr Vater, Mirhadi Khan Mohandeszadeh, war ein angesehener iranischer Ingenieur. Ihre Mutter, Gertrud Stock, eine gebildete deutsche Frau, spielte eine zentrale Rolle in der Erziehung und geistigen Entwicklung ihrer Tochter.
Gertrud, die nach der Eheschließung mit Seyed Fazlollah Mirhadi den Namen Greta Dietrich annahm, gehörte zu den Mitbegründerinnen des ersten Kinderkrankenhauses im Iran. Sie hatte an der Kunstakademie in München Bildhauerei und Malerei studiert und unterrichtete später Grundlagen der Kunst an der renommierten Kunstschule Kamal-ol-Molk. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit war sie eine hingebungsvolle Hausfrau, deren Einfluss auf ihre Kinder weit über das Alltägliche hinausreichte.
Der Vater, Seyed Fazlollah Mirhadi, war ein Mann von außergewöhnlicher Entschlossenheit. Im Alter von vierzehn Jahren verließ er seine Heimatstadt Tafresh zu Fuß und machte sich auf den Weg nach Teheran, um am angesehenen Dar-ol-Fonoun-Institut seine Ausbildung fortzusetzen. Während seines Studiums in Deutschland lernte er Greta kennen, heiratete sie und brachte sie mit nach Teheran zurück. In der Regierungszeit von Reza Schah wurde Seyed Fazlollah als einer der herausragenden Technokraten des Landes geschätzt und genoss das besondere Vertrauen des Schahs.
Eine Kindheit zwischen zwei Welten
Touran wuchs in einem Haus auf, in dem sich die Kulturen des Iran und Deutschlands auf harmonische Weise begegneten. Diese kulturelle Doppelprägung war kein Nebenaspekt ihrer Biografie, sondern bildete das Fundament ihrer Persönlichkeit. Bereits im Alter von sechs Jahren sprach sie fließend drei Weltsprachen: Persisch, Deutsch und Französisch. Sprache bedeutete für sie weit mehr als Kommunikation. Sie war Ausdruck von Identität, Zugang zu anderen Denkweisen und Brücke zwischen Kulturen.
Im Mittelpunkt ihrer Erziehung stand ihre Mutter Greta. Mit außergewöhnlicher Fürsorge, Disziplin und kultureller Tiefe begleitete sie die geistige Entwicklung ihrer Tochter. Greta war nicht nur die prägendste Figur in Tourans Leben, sondern auch ihre erste Lehrerin, Mentorin und Inspirationsquelle. Sie vertrat die Überzeugung, dass jede Sprache ein Tor zur Kultur eines anderen Landes sei. Diese Haltung prägte nicht nur die Erziehung ihrer Kinder, sondern wurde zum Grundsatz von Tourans späterem Bildungsverständnis.
Mit großer Konsequenz bemühte sich Greta darum, ihre Kinder mit beiden Kulturen vertraut zu machen. In ihrem Haus wurden deutsche Gründlichkeit und iranische Herzlichkeit, künstlerische Kreativität und strukturiertes Denken, westliche Offenheit und östliche Tiefe nicht als Gegensätze, sondern als Ergänzungen gelebt.
Diese einzigartige Kindheit, geprägt von sprachlicher Vielfalt, kulturellem Reichtum und elterlicher Hingabe, bildete den Nährboden für Touran Mirhadis spätere Bildungsvision. Sie glaubte an die formende Kraft der frühen Kindheit, an die Bedeutung von Literatur für die geistige Entwicklung und an die Verantwortung der Gesellschaft, jedes Kind ernst zu nehmen.
Bildung als Berufung: Der pädagogische Weg von Touran Mirhadi
Touran Mirhadis außergewöhnlicher Bildungsweg spiegelte die geistige Weite und den pädagogischen Ernst wider, mit denen sie ihr gesamtes Leben der Förderung von Kindern und Jugendlichen widmete. Ihre akademische Ausbildung und ihre bahnbrechenden Tätigkeiten vor und nach der Islamischen Revolution von 1979 machten sie zu einer der prägendsten Bildungsreformerinnen des Iran im 20. Jahrhundert.
Akademischer Werdegang
Touran besuchte zunächst das renommierte französische Mädchengymnasium Jeanne d’Arcin Teheran, das sie mit einer exzellenten Ausbildung und fundierter Mehrsprachigkeit prägte.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begab sie sich nach Frankreich, um ihr Studium fortzusetzen. Dort widmete sie sich der Kinderpsychologie und der frühkindlichen Pädagogik, zwei Fachgebieten, die fortan das Zentrum ihres Denkens und Handelns bildeten.
Im Anschluss vertiefte sie ihre wissenschaftliche Qualifikation in Frankreich und Deutschland, wo sie sich auf die Erziehungspsychologie und die Bildungsarbeit mit Kindern spezialisierte. Diese internationale Ausbildung, vereint mit ihrer kulturellen Doppelprägung, verlieh ihrer späteren Arbeit eine einzigartige Tiefe und interdisziplinäre Perspektive.
Wichtige Meilensteine vor der Revolution von 1979
- Gründung der Schule Farhad (1956)
Im Jahr 1956 gründete Touran Mirhadi die Schule Farhad, eine der ersten modernen und privaten Bildungseinrichtungen im Iran. Die Schule verfolgte einen innovativen, kindzentrierten Ansatz, der sich auf Kreativität, Eigenverantwortung und kritisches Denken stützte.
Sie wurde zu einem Modellprojekt für die Erziehung freier, fragender und verantwortungsbewusster Individuen – Menschen, die nicht nur Wissen konsumieren, sondern sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen sollten.
- Verfassen von Lehrbüchern und pädagogischen Materialien
Touran gehörte zum Autorenteam der Lehrwerksreihe Talimate Ejtemai (Sozialkunde für die Grundschule). Diese Schulbücher zeichneten sich durch eine didaktisch reflektierte, wissenschaftlich fundierte und kulturorientierte Herangehensweise aus.
Ziel war es, den Kindern nicht nur Informationen, sondern auch soziale Kompetenzen und ein Bewusstsein für ihre gesellschaftliche Rolle zu vermitteln.
- Gründung des Kinderbuchrats (Shoraye Ketabe Koodak, 1962)
Mit der Gründung des Kinderbuchrats im Jahr 1962 schuf Touran eine wegweisende Plattform zur Förderung der Kinderliteratur im Iran.
Diese unabhängige Institution setzte sich für eine qualitative Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendliteratur ein und bildete zugleich das Fundament für den Aufbau zahlreicher Kinder- und Jugendbibliotheken im ganzen Land. Sie war überzeugt, dass Bücher nicht nur Wissen, sondern auch Mitgefühl, Fantasie und Freiheit vermitteln.
Engagement nach der Islamischen Revolution von 1979
Nach der Revolution von 1979 geriet ein großer Teil von Touran Mirhadis Arbeit unter politischen Druck. Ihre Schule Farhad, die seit ihrer Gründung koedukativ war und auf modernen, humanistischen Lehrmethoden beruhte, wurde im Jahr 1981 unter verschiedenen Vorwänden geschlossen.
Doch auch unter den erschwerten Bedingungen der neuen Zeit gab sie ihre pädagogische Mission nicht auf. Vielmehr verlagerte sie ihre Arbeit auf andere Bereiche und bewahrte ihre Prinzipien unbeirrt.
- Fortführung des Kinderbuchrats
Trotz ideologischer Beschränkungen gelang es ihr, die Aktivitäten des Kinderbuchrats weiterzuführen. Sie kämpfte mit großer Ausdauer dafür, dass Kinder und Jugendliche auch in der neuen politischen Realität Zugang zu wertvoller Literatur und Bildung behalten.
- Initiative für die Enzyklopädie für Kinder und Jugendliche
Im Jahr 1980 begann Touran Mirhadi mit der Realisierung eines ihrer größten Lebenswerke: der Farhangname-ye Kudakan va Nojavanan, der ersten iranischen Enzyklopädie für Kinder und Jugendliche.
Dieses monumentale Projekt war mehr als nur ein Lexikon. Es war Ausdruck ihres tiefen Glaubens an die Bildung als kollektives Gut. Mehr als 250 Autorinnen, Redakteure und Forscherinnen beteiligten sich an diesem Gemeinschaftswerk, das Kindern fundiertes Wissen in verständlicher, zugänglicher Sprache vermitteln sollte.
- Beratungstätigkeit in pädagogischen und kulturellen Institutionen
Über viele Jahre hinweg war Touran Mirhadi als gefragte Beraterin in zahlreichen Einrichtungen tätig, sei es bei Fragen der Lehrerbildung, der Entwicklung von Lehrmaterialien oder der strukturellen Förderung von kindgerechter Bildung.
Ihr Einfluss reichte weit über die formalen Bildungsinstitutionen hinaus. Sie prägte Denkweisen, eröffnete Räume des Dialogs und inspirierte Generationen von Pädagoginnen und Pädagogen.
Auszeichnungen und internationale Anerkennung
Für ihr lebenslanges Engagement im Dienst der Bildung, der Kinderrechte und der Entwicklung einer ganzheitlichen Pädagogik wurde Touran Mirhadi mit einer Reihe bedeutender nationaler und internationaler Ehrungen gewürdigt. Ihre Verdienste wurden von Fachinstitutionen ebenso anerkannt wie von internationalen Organisationen:
- Verleihung des Ordens Erster Klasse für Kultur durch das iranische Bildungsministerium
- Auszeichnung auf dem internationalen Bildungsfestival „Roshd“ für ihre herausragende pädagogische Arbeit
- Ehrung durch die UNESCO für ihre wissenschaftlichen und bildungsbezogenen Beiträge im Bereich der kindlichen Entwicklung und Erziehung
- Trägerin des Yahya-Mafi–Preises im Jahr 2012: verliehen vom Kinderbuchrat (Shoraye Ketabe Koodak) für ihren herausragenden Einfluss auf die Kinderliteratur im Iran
- Nominierung für den Astrid-Lindgren Memorial Award (ALMA) – eine der weltweit renommiertesten Auszeichnungen für Personen und Organisationen, die sich auf außergewöhnliche Weise um die Leseförderung von Kindern verdient gemacht haben
Tod und letzte Ruhestätte
Am 8. November 2016 verstarb Touran Mirhadi im Alter von 89 Jahren in Teheran nach längerer Krankheit.
Sie wurde auf eigenen Wunsch an der Seite ihres Sohnes Farhad beigesetzt, der in jungen Jahren tragisch ums Leben gekommen war. Ihm zu Ehren hatte sie die von ihr gegründete Schule „Farhad“ benannt – ein Ort lebendiger Erinnerung wie pädagogischer Vision. Die Grabstätte befindet sich auf dem Friedhof des Imamzadeh Abdullah in Shahr-e Rey, einem historischen Stadtteil südlich von Teheran.
Vermächtnis und geistiges Erbe
Touran Mirhadi war weit mehr als nur eine Pädagogin oder Wissenschaftlerin. Sie war eine geistige Architektin einer humanistischen Bildungskultur in Iran, eine unermüdliche Verfechterin des Denkens, der Kindheit und der Menschlichkeit. In einer Zeit, in der autoritäre Bildungssysteme weltweit auf Konformität und Gehorsam setzten, vertrat sie mit bemerkenswerter Klarheit das Ideal einer schöpferischen, kritisch denkenden und empathischen Generation.
Mit dem Aufbau innovativer Bildungsinstitutionen, der Förderung von Kinder- und Jugendliteratur sowie ihrer Mitwirkung an der Enzyklopädie für Kinder und Jugendliche schuf sie ein Fundament, das bis heute Bestand hat. Ihr Wirken war durchdrungen von der tiefen Überzeugung, dass Bildung nicht nur zur Wissensvermittlung, sondern zur Charakterbildung beitragen muss.
„Sprache ist das Tor zur Kultur anderer Völker“, sagte sie einst, ein Leitsatz, der ihre pädagogische Vision auf den Punkt bringt. Für Mirhadi war Mehrsprachigkeit nicht nur ein intellektuelles Werkzeug, sondern ein ethischer Imperativ zur Förderung von Weltoffenheit und interkultureller Verständigung.
In ihrer Vorstellung von einer besseren Gesellschaft spielte der Frieden eine zentrale Rolle. „Frieden muss in der Kindheit gelernt und gelebt werden“, lautete eine ihrer grundlegenden Einsichten. Diese Haltung floss nicht nur in ihre Lehrpläne ein, sondern auch in jede Facette ihres Engagements: vom Schulalltag bis zur Leseförderung, von der Enzyklopädiearbeit bis hin zur internationalen Zusammenarbeit.
Das geistige Erbe Touran Mirhadis ist ein Erbe des Vertrauens in das Kind, in das Lernen und in die Kraft der Bildung als Weg zu Freiheit, Menschlichkeit und dauerhafter gesellschaftlicher Erneuerung.
Fazit
Touran Mirhadi war eine der prägendsten Persönlichkeiten der modernen iranischen Bildungsgeschichte. Als Pädagogin, Autorin und Mitbegründerin zentraler Institutionen wie der Schule Farhad und des Kinderbuchrats prägte sie Generationen mit ihrem humanistischen, kindzentrierten Ansatz. Ihr Wirken war tief geprägt von interkultureller Weitsicht, wissenschaftlicher Disziplin und dem unerschütterlichen Glauben daran, dass Bildung der Schlüssel zu Frieden, Kreativität und gesellschaftlichem Fortschritt ist. Ihr Vermächtnis lebt in der Kinderliteratur, in der Enzyklopädie für Kinder und Jugendlichen und in den Herzen all jener weiter, die Bildung als Werkzeug zur Menschwerdung verstehen.
Quellen:
- https://iranwire.com/en/women/123256-iranian-influential-women-touran-mirhadi-1927-2016
- https://libraetd.lib.virginia.edu/public_view/7s75dc87f
- https://wncri.org/2018/12/18/touran-mirhadi-educator-childrens-book-author