Im Mai und Oktober 2024 fanden in Deutschland Versammlungen statt, bei denen junge Migranten arabischer, afrikanischer oder möglicherweise türkischer Herkunft Parolen skandierten, die die Wiederherstellung des Kalifats forderten. Es scheint, als gehörten diese Jugendlichen weniger zu den neueren Zuwanderern, sondern vielmehr zu den Nachkommen früherer muslimischer Migranten. Diese Generation jedoch erscheint weder bereit, in die Heimatländer ihrer Vorfahren zurückzukehren, noch zeigt sie die Bereitschaft, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Realitäten in Westeuropa oder Mitteleuropa zu akzeptieren.
Der Mangel an einem intellektuellen Ankerpunkt in Europa hat bei diesen Jugendlichen eine tiefgreifende Orientierungslosigkeit hervorgebracht, die sie in die Arme einer der rückschrittlichsten politischen Konzepte führt, die die Menschheit je hervorgebracht hat: das Kalifat.
In der modernen Ära ist die Vorstellung von der Wiederherstellung des Kalifats der einflussreichste politische Gedanke, der die arabische sowie die sunnitische islamische Welt in seinen Bann gezogen hat. Die Kalifate der Umayyaden, Abbasiden und Osmanen sind ein prägender Teil der Geschichte des Islam und umfassten einst nahezu die gesamte Region, die heute als islamische Länder bekannt ist – mit einer entscheidenden Ausnahme: „Iran“.
Irgendwo außerhalb des Inneren
Die persische Zivilisation und das Land Iran haben sich stets geweigert, sich dem Magnetfeld des Kalifats zu unterwerfen. Um ihre Unabhängigkeit zu bewahren, hat der Iran immer wieder blutige Kriege geführt. Das Verhältnis des Iran zum Islam ist daher von besonderer Komplexität, was das Verständnis seiner Rolle in der Region erschwert. Obwohl die Iraner den Islam annahmen, haben sie niemals die arabische Sprache übernommen und stattdessen wandten sie sich einer „inoffiziellen“ Ausprägung des Islam zu – einer Richtung, die vom Kalifat nicht anerkannt wurde. So blieb der Iran stets ein „Außenseiter innerhalb der islamischen Welt“. [1] Dieser Umstand spielt eine zentrale Rolle in den Thesen von Javad Tabatabai, einem der führenden iranischen Philosophen, der versucht, die Gesetzmäßigkeiten der iranischen Geschichte zu erklären. Laut Tabatabai behielt der Iran trotz der Annahme des Islam seine sprachliche, nationale und intellektuelle Eigenständigkeit. Der Iran entschied sich, sich vom Kalifat abzugrenzen, indem er sich dem Schiitentum zuwandte – einer Form des Islam, die stets einen deutlichen Abstand zur sunnitischen Mitte wahren wollte. Schon zuvor hatte sich die iranische Auslegung des Islam, geprägt von Rationalismus, Toleranz und einer tiefen Wertschätzung für die Philosophie, als eine klare Differenzierung vom Kalifat gezeigt. Die herausragenden Philosophen des Islam stammten aus dem Iran1, während der bedeutendste arabische Denker der islamischen Welt, „Ibn Ruschd“, vor allem als Kommentator der Werke von „Ibn Sina (Avicenna) “ bekannt war. In Bezug auf die Sichtweise von Tabatabai dachte der Iran, anders als die meisten islamischen und christlichen Länder, die ihre Lebensweise auf einen einzigen Text stützen, stets in drei kulturellen Dimensionen:- Die erste Dimension ist das iranische Schrifttum, das heute als „Iranischer Kulturraum“ (IRĀNŠAHRI2) bekannt ist und das Erbe vorislamischer Überzeugungen und Praktiken bewahrt, die in der islamischen Ära überliefert wurden. Diese Überreste finden sich in Bereichen wie Staatsführung, Literatur, Religion, politischer Philosophie und Festkultur.
- Das griechische Erbe, das vor allem durch Aristoteles und den antiken Rationalismus geprägt wurde. Philosophen wie Farabi, Avicenna und Nasir al-Din Tusi erweiterten diese Tradition im islamischen Kontext. [2]
- Die islamische Komponente, die sich auf den Koran und andere heilige Texte stützt
1 Es ist ein häufiges Missverständnis, dass zahlreiche Wissenschaftler und Philosophen, die als islamische Denker bezeichnet werden, ausschließlich mit dem Islam in Verbindung gebracht werden, allein weil sie in der Blütezeit des Islam wirkten. Tatsächlich waren viele dieser brillanten Köpfe iranischer Herkunft, und ihre bahnbrechenden Beiträge entstanden in einer Ära, in der der Iran als Zentrum islamischer Wissenschaft und Philosophie galt. Ihre Werke, die Disziplinen wie Medizin, Astronomie, Philosophie und Politik entscheidend beeinflussten, hinterließen nicht nur in der islamischen Welt, sondern auch in der westlichen Wissenschaftstradition einen tiefen und bleibenden Eindruck.
Einige der bedeutendsten iranischen Denker und Wissenschaftler:
- Avicenna (Ibn Sina) – Ein herausragender Arzt und Philosoph, dessen monumentales Werk Die Heilkunst über Jahrhunderte als unangefochtenes Standardwerk der Medizin diente.
- Al-Farabi – Ein wegweisender Philosoph, der die Lehren von Aristoteles mit islamischen Ideen verband und als „zweiter Lehrer“ nach Aristoteles Berühmtheit erlangte.
- Al-Razi (Rhazes) – Ein brillanter Arzt und Chemiker, dessen medizinische Abhandlungen und Beiträge zur Alchemie ihn zu einer der bedeutendsten Figuren seiner Zeit machten.
- Nasir al-Din al-Tusi – Ein einflussreicher Mathematiker und Astronom, der mit seiner Entwicklung des Tusi-Triangle und seinen bahnbrechenden Arbeiten in der Astronomie Geschichte schrieb.
- Suhrawardi – Philosoph und Mystiker, bekannt als Begründer der Lichtmetaphysik und des „philosophischen Sufismus“, dessen Ideen tiefgreifenden Einfluss auf die islamische Philosophie hatten.
- Al-Khwarizmi – Mathematiker und Astronom, bekannt als Vater der Algebra und Entwickler grundlegender Rechenmethoden (Algorithmus).
- Mulla Sadra – Ein visionärer Philosoph, dessen Transzendentalphilosophie eine meisterhafte Synthese von Sufismus und Aristotelismus darstellt und die islamische Geistesgeschichte nachhaltig geprägt hat.
2 Iranšahr bezeichnet das kulturelle, historische und zivilisatorische Gebiet Irans, dessen Ursprünge bis in die Zeit der Sassaniden zurückreichen. Ursprünglich mit der Bedeutung „Land der Iraner“ versehen, entwickelte sich der Begriff im Laufe der Jahrhunderte zu einem umfassenden intellektuellen und kulturellen Konzept, das die iranische Identität durch wesentliche Elemente wie Sprache, Religion, Bräuche – darunter Nouruz und Mehregan – sowie mythische Überlieferungen prägte.
Iranšahr verkörpert die Beständigkeit der iranischen Zivilisation im Wandel der Geschichte und hebt zugleich ihre Fähigkeit hervor, trotz zahlreicher Umbrüche ihre zentralen Werte und Traditionen zu bewahren. Dieses Konzept steht seit jeher als Sinnbild für die Dynamik und die unermüdliche Wiederbelebung der iranischen Kultur.
Die Auflösung des Kalifats und der Wunsch nach seiner Wiederherstellung
Nach der Aufhebung des osmanischen Kalifats im Jahr 1924 durch Mustafa Kemal (Atatürk) kam es in den muslimischen (sunnitischen) Ländern zu einer weit verbreiteten Unzufriedenheit. Zahlreiche islamistische Bewegungen, die von Südasien bis Nordafrika reichten, reagierten darauf – mit einer entscheidenden Ausnahme: Iran. Denn in Iran fand die Aufhebung des Kalifats kaum Beachtung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Iran bereits nicht mehr in den Konflikt mit dem Kalifat verwickelt. Das Osmanische Reich hatte nach dem „Şerif-Gülhane-Edikt“ und der Ära der Tanzimat eigene Probleme zu bewältigen und stellte keine Ansprüche mehr an den Iran. Der Iran in der Qajarenzeit war vielmehr mit dem ungleichen Konflikt gegen das Russische und das Britische Empire beschäftigt, was zu einem Verlust von Gebieten im Kaukasus führte. Die militärische und diplomatische Niederlage Irans in den Iranisch-Russischen Kriegen führte zu einer tiefgreifenden intellektuellen Krise, die sich in der Konstitutionellen Revolution von 1906 manifestierte. Diese Revolution war die einzige freiheitliche Bewegung in der gesamten islamischen Welt, während die arabischen Länder zu dieser Zeit entweder unter Kolonialherrschaft standen oder Teil des Osmanischen Kalifats waren. Nach der Aufhebung des Kalifats war die Muslimbruderschaft die wichtigste Bewegung, die in Ägypten gegründet wurde, mit dem erklärten Ziel, das Kalifat wiederherzustellen. Ihre Zweige breiteten sich im gesamten Nahen Osten aus. Der Schatten des Kalifats verschwand nie vollständig vom Horizont der muslimischen (sunnitischen) und arabischen Gesellschaften, und der Gedanke an seine Wiedererrichtung blieb stets unter der Umma lebendig. Der zentrale Begriff dieses Diskurses stützt sich auf Schlüsselkonzepte wie Umma, Zivilisation und viele mehr, und es scheint, also ob die sunnitisch-islamische politische Denkrichtung keine andere Form der Reproduktion kennen kann. Die Iraner hingegen haben sich in ihrer Geschichte stets geweigert, Teil des Kalifat-Umma-Systems zu werden, und haben sich immer wieder dagegen gewehrt, wann immer es notwendig war. Es ist offensichtlich, dass innerhalb des Umma-Systems kein Platz mehr für eine eigenständige Nation wie den Iran ist. Um Teil der Umma zu werden, müsste der Iran seine persische Sprache, seinen Rationalismus, seine persische Mystik sowie seine Literatur und Philosophie aufgeben. Doch die Türken hatten diese Probleme nicht, als sie in das „Kalifat-Umma-System“ eintraten, da sie zuvor bereits ihre eigene kulturelle Identität bewahrt hatten. Die Allianz der türkischen Stämme und des Kalifen beruhte auf einer Denkrichtung, die das islamische Recht und das „Kalifat-System“ als die alleinige Theorie der Macht betrachtete, während der Iran eine andere Form des Islam verfolgte – die Führung Imamate3, die als Schiitismus bekannt wurde.3 Iranšahr bezeichnet das kulturelle, historische und zivilisatorische Gebiet Irans, dessen Ursprünge bis in die Zeit der Sassaniden zurückreichen. Ursprünglich mit der Bedeutung „Land der Iraner“ versehen, entwickelte sich der Begriff im Laufe der Jahrhunderte zu einem umfassenden intellektuellen und kulturellen Konzept, das die iranische Identität durch wesentliche Elemente wie Sprache, Religion, Bräuche – darunter Nouruz und Mehregan sowie mythische Überlieferungen prägte.
Der arabische Nationalismus in Syrien und Irak
Mit dem Scheitern des arabischen Nationalismus, der sich primär als Verbündeter der Sowjetunion verstand, und der Erschütterung der Weltordnung nach dem Kalten Krieg trat die Krise des Kalifats erneut mit drängenderer Dringlichkeit in den Vordergrund, besonders für die Araber und einige wenige Türken, deren kollektives Gedächtnis bereits von dieser Thematik geprägt war. Im weiteren Verlauf schlossen sich auch Pakistan und das sunnitische Afghanistan diesem Streben nach dem Kalifat an und begannen, ihre eigene Sehnsucht nach einer solchen Ideologie zu entwickeln. Heute ist es die neue Generation von Migranten, die in Europa und in einer sich kontinuierlich verändernden Welt mit einer Identitätskrise kämpfen. Diese Menschen fühlen sich oft von der fehlenden Zugehörigkeit zu einer stabilen kulturellen oder politischen Identität herausgefordert und haben kaum ein klares, territorial verankertes Fundament, auf das sie sich berufen können. Der Großteil von ihnen lebt ohne den Rückhalt eines Nationalstaates, der ihnen Orientierung und Sicherheit bietet.
Die Erfahrung mit dem „Islamischen Staat“ (IS), der unter dem Slogan „Meine Umma, die Morgendämmerung ist gekommen“ auftrat, stellt den Höhepunkt dieser Identitätskrise in der islamischen Welt dar. Gesellschaften, die von dieser Krise betroffen waren, griffen auf die historische Erinnerung an die Herrschaft des Kalifen über die Umma zurück, um ein Bild der Vergangenheit für die Zukunft zu entwerfen. Sie riefen gewissermaßen immer wieder den „Geist des Kalifen“ als ihre einzigen Rettungsanker herbei. Diese Periode gehört zu den bizarrsten Epochen in der Geschichte der Region, da sich die Machtverhältnisse jener Zeit wie ein Spiegelbild der dritten und vierten Jahrhunderte des islamischen Kalenders wiederholten – jedoch in einer tragikomischen Form.
In diesem Kontext trugen auch die Bemühungen der regionalen Kräfte dazu bei, dass das Kalifat des IS sein Ende fand. Doch der Krieg in Syrien und der Zusammenbruch der afghanischen Regierung führten zu einer Flut von Menschen, die nach Europa strömten, was das Management dieser Migrationsströme immer schwieriger machte. Von Deutschland bis in die Niederlande weht die schwarze Flagge der Kalifatsanhänger, die als Reaktion auf die Identitätskrise der Migranten eine ideologische Leerstelle zu füllen versucht. Auffällig ist, dass dieses Gespenst des Kalifats nicht mehr in Kairo oder Damaskus auftaucht, sondern im Herzen Europas.
Für die heutigen Deutschen mag das Gespenst des Kalifats wie eine primitive, lächerliche Fantasie oder eine museale Inszenierung von einigen arabischen und arabischstämmigen Migranten erscheinen. Doch in Wahrheit ist die Gefahr weitaus gravierender. Die Idee des Kalifats, ähnlich wie der des Kommunismus, wirkt wie eine betäubende Ideologie, die ihre Anhänger zu allem bewegen kann.
Selbst die Panarabismus-Bewegung der 1960er- und 1970er-Jahre vermochte es nicht, auch nur eine kurzzeitige Einheit zwischen den fortschrittlichsten arabischen Staaten – Syrien, Jordanien und Ägypten – zu erzielen, weshalb sie rasch zerfiel. Auch die Baath-Ideologie kollabierte im Irak mit dem Sturz Saddam Husseins. An die Stelle des künstlich konstruierten arabischen Nationalismus trat aus den Trümmern der Baath-Partei und ihrer modernen Ideologie – deren Theoretiker, Michel Aflaq, ein christlicher Denker war – der sogenannte „Islamische Staat“ (ISIS). Dies verdeutlicht, dass Gesellschaften und Staaten, die nach den Vorstellungen eines autoritären Herrschers (Despoten) gestaltet werden, oberflächlich zwar noch funktionieren mögen, jedoch auf Dauer keinen nachhaltigen Bestand haben können.
Der Irak unter Saddam Hussein erschien zunächst als ein säkularer Staat, regiert durch den modernen arabischen Nationalismus. Doch das, was letztlich daraus hervorging, war der religiöse Fundamentalismus von Al-Qaida, gefolgt von ISIS – ein Szenario, das sich in Syrien auf ähnliche Weise wiederholte. Weder der künstlich geschaffene arabische Nationalismus noch irgendeine andere äußere Macht sind in der Lage, eine Gesellschaft im tiefsten Sinne zu „konstruieren“. Eine Gesellschaft oder ein Staat, wie Hegel es beschrieb, muss sich aus inneren, lebendigen Dynamiken heraus entwickeln. Die Vorstellung, eine Gesellschaft mechanisch gestalten zu können, führt schließlich in die Irre, indem sie die Illusion weckt, sie kontrollieren oder nach einem vorgegebenen Plan formen zu können. Tatsächlich jedoch ist eine Gesellschaft oder ein Staat ein lebendiger, organischer Organismus, dessen Entwicklung nur aus den inneren Kräften und Prozessen hervorgehen kann.
Der unschuldige Osten und Edward Saids Falle
Die Unterstützung prominenter arabischer Intellektueller wie Al-Jabiri und Edward Said für Saddam Hussein, einschließlich der Leugnung chemischer Angriffe auf kurdische Zivilisten, sowie ihr Versuch, die USA davon zu überzeugen, den Irak unter der Herrschaft Saddam Husseins nicht zu attackieren, indem sie behaupteten, der Angriff mit Chemiewaffen auf die Kurden sei nicht von Saddam ausgeführt worden, sondern vom „Iran“, offenbart erneut die geistige Dunkelheit, in der die arabische Intellektualität gefangen ist. Eine Region, in der führende Denker nicht zögern, jemandem wie Saddam zu verteidigen – unabhängig von dessen Verbrechen – wird sich nur schwer aus dem Teufelskreis von Kalifat und tribalistischer Loyalität befreien können.
Was Intellektuelle wie Said und Al-Jabiri wiederholt zum Ausdruck brachten, war kein ernsthafter Versuch, das wahre Problem zu erkennen oder eine tatsächliche Veränderung herbeizuführen. Vielmehr ging es ihnen darum, die grundlegenden Missstände zu ignorieren und sich der Wahrheit zu verweigern. Diese Haltung führt die arabische Intellektualität von einem Irrweg zum nächsten. Die logische Konsequenz aus Theorien wie Edward Saids „Orientalismus“ – der den Osten als „unschuldig“ und den Westen als Ursprung allen Übels darstellt – war die Unterstützung für Saddam Hussein. Aus Saids Perspektive konnte jemand wie Saddam, der als neuer „Feldherr von Qadisiyya4“ aus dem Osten stammte, unmöglich der Urheber von Verbrechen und Gräueltaten sein. Die westliche Welt, angeführt von den USA, musste ihn stürzen, was für Said eine Art moderne Fortsetzung der Kreuzzüge darstellt – als eine westliche Intervention, die sich von der „heiligen Mission“ der Mittelalter-Kreuzzüge herleitet, bei denen der Westen, in der Vorstellung der arabischen Intellektuellen, stets im Namen des Guten und der zivilisatorischen Erneuerung handelte.
Um diesen Widerspruch zu überwinden, sah sich Said gezwungen, einen anderen Akteur für Saddams Verbrechen, insbesondere die Chemiewaffenangriffe auf kurdische Zivilisten, verantwortlich zu machen – einen Akteur, der nicht aus dem „unschuldigen Osten“ stammt. Dieser externe Sündenbock, den Said auswählte, war der Iran. In einem ausführlichen Artikel aus dem Jahr 1991 in der „London Review of Books“ argumentierte Said [3], dass Saddam unmöglich der Täter sein könne, und wies stattdessen ausdrücklich auf den Iran hin. Dies geschah trotz der Tatsache, dass die Opfer dieses Verbrechens zu jener Zeit in iranischen Krankenhäusern kostenlos behandelt wurden. Die Frage, warum Saids Behauptung einer iranischen Täterschaft seine Theorie von der „Unschuld des Ostens“ nicht widerlegte, lässt sich durch den bereits angesprochenen Gegensatz zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung erklären. Für arabische Intellektuelle – sei es muslimisch oder christlich – bleibt der Iran außerhalb ihres gedanklichen Horizonts, ein Land, das sie nicht in ihre eigene Weltanschauung integrieren können.
4 Iranšahr bezeichnet das kulturelle, historische und zivilisatorische Gebiet Irans, dessen Ursprünge bis in die Zeit der Sassaniden zurückreichen. Ursprünglich mit der Bedeutung „Land der Iraner“ versehen, entwickelte sich der Begriff im Laufe der Jahrhunderte zu einem umfassenden intellektuellen und kulturellen Konzept, das die iranische Identität durch wesentliche Elemente wie Sprache, Religion, Bräuche – darunter Nouruz und Mehregan sowie mythische Überlieferungen prägte.
Die Kolonialismustheorie
Die Theorie des Imperialismus bietet vielen Intellektuellen der islamischen Welt eine willkommene Möglichkeit, sich ihrer historischen Verantwortung für den Niedergang der muslimischen Gesellschaften zu entziehen. Ein Niedergang, dessen tief verwurzelte soziale Ursachen Ibn Chaldun bereits Jahrhunderte vor der Ankunft der Europäer erkannt und durchdringend analysiert hatte. Der Imperialismus war für den Iran nie ein zentrales Thema, da das Land nie von Kolonialmächten unterworfen wurde. Dennoch nutzten viele arabische Staaten und Teile des Nahen Ostens die Kolonialisierung als einen bequemen Vorwand, um sich der Auseinandersetzung mit den wahren Ursachen ihres Verfalls zu entziehen. Statt sich der Verantwortung für die eigene Schwäche zu stellen, interpretierten sie die Geschichte Europas aus der Perspektive imperialistischer Aggression und schoben ihre eigenen Probleme auf äußere Faktoren [4].
Dieser weit verbreitete Ansatz verschaffte ihnen die Möglichkeit, ihre inneren Missstände nicht als Resultat einer eigenen Verantwortung zu begreifen, sondern sie durch einen äußeren Feind erklären zu können. Wäre der Imperialismus nicht für die gegenwärtige Lage verantwortlich, so hätte man zwangsläufig die Schuld an den starren Traditionen und dem Kalifatsystem suchen müssen.
Schlussbemerkung
Dies alles zeigt eindrucksvoll, dass die Ideologie des Kalifats und ihre tiefgreifenden Konsequenzen, ebenso wie die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu ihr, eine abgeschlossene Weltanschauung verkörpern. Heute wird diese Ideologie nicht mehr aus den historischen Zentren Bagdad oder Istanbul heraus verfolgt, sondern vielmehr aus dem Herzen Europas. Daraus ergibt sich die drängende Frage, warum europäisches Denken für die neue Generation von Migranten – deren Eltern einst nach Europa kamen, um sich zu integrieren und die sozialen sowie intellektuellen Errungenschaften dieser Gesellschaften zu nutzen – keine Anziehungskraft mehr ausübt.
Die Antwort auf diese Frage muss mit größter Vorsicht und Verantwortung bedacht werden. Vielleicht liegt sie jedoch darin begründet, dass die Ära großer Denker wie Goethe, Hegel, Fichte und des deutschen Idealismus in Europa längst vorbei ist. Die Tradition und das Erbe dieser bedeutenden Philosophen finden in den heutigen Gesellschaften der westlichen Welt kaum noch Beachtung.
Quellen:
[1] Javad Tabatabai. Ibn Khaldun and the Social Sciences: Discourse on the Condition of Im-possibility, Philip Grant, Polity; 1st edition (January 7, 2025).
[2] Peripatetic school
[3] Edward Said · Edward Said, an American and an Arab, writes on the eve of the Iraqi-Soviet peace talks: https://www.lrb.co.uk/the-paper/v13/n05/edward-said/edward-said-an-american-and-an-arab-writes-on-the-eve-of-the-iraqi-soviet-peace-talks
[4] Javad Tabatabaei. “L incomprehension des: Le Cas de la perse” Le Debat, (2002), 68-78.